Zukunft ungewiss? Über das Ende der Moderne und was auf ihr folgen könnte

6/20/2022 11:59:00 PM

Wie eine KI (dall-e mini) Kybernetik visualisiert

Wir alle spüren es: Die Krisenhäufigkeit nimmt zu, die Zukunftsungewissheit wächst. Das hat wenig mit der überzitierten Scholz’schen Zeitenwende zu tun als das vielmehr das Ende einer 250 Jahre andauernden Epoche gekommen zu sein scheint: Die der Moderne. Sie umfasste die Industrialisierung, Säkularisierung, Aufklärung, den Wohlfahrtsstaat in ihrer ersten Hälfte und endet mit einer globalisierten, arbeitsteiligen Weltgesellschaft, den Grenzen des Wachstums und der Individualisierung in ihrer zweiten Hälfte bzw. der Spätmoderne.

„Die Krise besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das neue nicht zur Welt kommen kann: in diesem Interregnum kommt es zu den unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen.“ Antonio Gramsci – Gefängnishefte

Im Jahr 2022 stellen wir fest: das sozioökonomische wie technologische Versprechen der Moderne funktioniert nicht mehr richtig. Wohin wir blicken, Normen und Werte bröckeln, Allianzen schwächeln, etablierte Ordnung und Systeme kollabieren, konkurrieren oder geraten systemisch unter Druck. Ist die ultralange Welle der Moderne wirklich vorbei? Erleben wir einen Bruch all unserer bekannten Strukturen, das Epochenende? Vieles spricht dafür. Ich möchte in diesem Essay aktuelle Beobachtungen, die im Gramsci’schen Sinne genannten Krankheitserscheinungen zusammenfassen und mögliche Folgen des Strukturbruchs skizzieren sowie ein Ausblick geben, auf das, was auf die Moderne folgen könnte, aber noch nicht geboren ist. 

Ein zugegeben gewagter Blick in die Zukunft anhand von vier sich vollziehenden Strukturbrüchen:

  1. Der Neo-Biedermeier kommt – Support bubbles als Familienersatz und grenzenlose Vereinzelung
  2. Energy Abundance: Von fossiler Abhängigkeit zum Energieschlaraffenland
  3. Die große Entflechtung: Die De-Globalisierung läuft an und wird durch den Finanzmarkt getrieben werden
  4. Die große Unordnung: Warum es nicht zu alarmistisch ist, den Anfang des Endes der herrschenden Weltordnung auszurufen

Here you go:

1. Neo-Biedermeier – Support bubbles als Familienersatz und grenzenlose Vereinzelung in allen Lebensbereichen

tl,dr:

Strukturbruch:

Die hochfragmentierte Gesellschaft frisst sich in jeden Lebensbereich hinein und lähmt demokratische wie gesellschaftliche Entscheidungsprozesse (Keine Einigung auf Fakten, Wahrheiten und Prioritäten. Eine Krise des Mehrheitsprinzips folgt)

Die Folge:

Zunehmende Vereinzelung (Singularität) in allen Lebensbereichen: 

  • in der Familie (Kleinstfamilien, Singles)
  • in der Arbeitswelt (Freelance Economy, Gig-Eco, der Anfang vom Ende der Multinational Corporations mit dem Verlust von Arbeitnehmerinnen-vertretungen),
  • in politischen Interessensvertretung (Vielparteien-Parlamente, 1-Themen-Bewegungen,  Petitionen) und 
  • in den Medien (individualisierte Feeds, Bubbles und nicht-linearer Medienkonsum) 
Die Folge: Konsens- und Kompromissbereitschaft schwindet, notwendige Entscheidung laufen der Realität hinterher oder werden überhaupt nicht getroffen. Längst verhandelte gesellschaftliche Entscheidungen werden in Frage gestellt, von allen Seiten. Dieser Revisionismus torpediert jede progressive Bemühung. Es kommt in allen Lebensbereichen zu Konflikten (Arbeit, Familie, Politik, Öffentlichkeit).
 

Der Ausblick:

Rückzug ins Private und Renaissance des Biedermeiers. Support Bubbles fungieren als kleinste Organisationseinheit des privaten Lebens, als gesellschaftlich (und staatlich) anerkanntes Äquivalent der Ehe mit weitreichenden Rechten und (Unterhalts-) Pflichten aber auch mit isolierten politischen Ansichten und Wahrheiten.

Hybride und flexible Arbeitsmodelle zwischen Freiberuflichkeit und (Care-) Arbeit für die Support Bubble prägen den Alltag. Auf die hyperpolitisierte Gesellschaft folgt die politisch-resignierte Werte- und Haltungsgesellschaft. Gesamtgesellschaftliche Solidaritätsbereitschaft schwindet. Neue Kooperationsformen zwischen Support Bubbles entstehen.

Hintergrund:

Am Anfang der Corona Pandemie, als gesetzliche Bestimmungen unser Zusammenleben bestimmten, hat man im Vereinten Königreich erkannt, dass in Zeiten von millionenfachen Singlehaushalten und eheähnlichen Lebensmodellen nicht die Familie der Bezugspunkt des Privaten darstellen muss, sondern die sogenannte „Support Bubble“: eine kleine Gruppe von Individuen, die füreinander einstehen ohne verheiratet oder verwandt zu sein. Damit hat ausgerechnet eine Pandemie einen Begriff geprägt, die das erodierenden Familienbild auf den Punkt bringt. Es beschreibt bewegliche Blasen in der man sich gegenseitig Unterstützung leistet und erfährt aber gleichermaßen einen geschützten Raum darstellt. Der Koalitionsvertrag der Ampelregierung sieht ebenfalls vor, solche Lebensgemeinschaften auch rechtlich einen Rahmen zu geben. Dem Langzeittrend hin zu Klein- und Kleinstfamilien können wir nun also die Support Bubble hinzufügen, die es uns ermöglicht auch als Single Teil einer Familie, einer Bubble zu sein – und das sogar rechtssicher. Es setzt sich damit die Vereinzelung unserer Gesellschaft fort, die nunmehr rechtlich und gesellschaftlich akzeptiert werden wird.

 Weiterhin hat uns die Pandemiebekämpfung gelehrt, dass der Großteil der Erwerbstätigen nicht systemrelevant ist. All jene, die von heute auf morgen im Homeoffice arbeiten konnten, sind gewissermaßen „non-essential workers“ - nichts weniger als eine unausgesprochene, millionenfache Abwertung der beruflichen Tätigkeit. Weiterhin hat sich durch den Wegfall sozialer Nähe zu Kolleginnen die Arbeit selbst als erstaunlich banal entpuppt, meist als reine Verwaltungsarbeit. Sehr, sehr viele Menschen haben sich im März 2020 an einem behelfsmäßigen Schreibtisch wiedergefunden, um Exceltabellen auszufüllen, Powerpoint Präsentationen zu erarbeitet und in Zoom-Konferenzen zu starren. Die Erkenntnis vieler, spätestens zum zweiten Lockdown 2021 war: das ist also meine eigentliche Arbeit? Soziologen werden später von „naked work“ sprechen.

Beide Effekte der erzwungenen Heimarbeit zusammengenommen wirken verheerend auf die Arbeitsmoral. Die Tätigkeit ist a) wenig attraktiv, sobald die soziale Komponente wegfällt und ist b) gesellschaftlich nicht wichtig, sprich systemirrelevant. Das Resultat: eine gewaltige Kündigungswelle hat moderne Gesellschaften erreicht. Man spricht dabei von „The Great Resignation“ oder „Big Quit”, dem Phänomen der selbstgewählten Massenkündigungen, die in nahezu allen westlichen Volkswirtschaften zu beobachten ist, wie auch schon lange vor Corona.

Hinzu kommt, dass die größten drängenden Probleme unserer Zeit (Klimakrise, gesellschaftlicher Zusammenhalt, Ungleichheit) im Bewusstsein vieler, vor allem jüngerer Arbeitnehmerinnen allgegenwärtig ist. Die sehr kurze Phase am Anfang der Pandemie, dass es nun wirklich eine politische, soziale und wirtschaftliche Veränderung braucht, ist im Jahr 2022 nahezu verflogen. Wir scheinen einfach weiter zu machen wie bisher: Care-Berufe werden immer noch schlecht bezahlt, der CO2-Ausstoß hat sich wieder auf Vorkrisenniveau eingependelt, Arbeitgeberinnen fordern wieder vermehrt Reisetätigkeit und Büropräsenz, der so genannte globale Süden hat die nötigen Impfstoffe noch immer nicht erhalten. Es ist eine Erkenntnis, dass selbst eine derart große Krise wie eine weltweite Pandemie mit Millionen Opfern zu keiner wesentlichen Veränderung geführt hat. Unternehmen wie öffentliche Institutionen haben scheinbar nur vorgegeben, sich ändern zu wollen. Das tiefe Bedürfnis die Probleme unserer Zeit im Job zumindest nicht noch zu befeuern aber bleibt. Das Resultat ist eine große Dissonanz zwischen individueller, persönlicher Anpassungsbereitschaft und vorgetäuschtem Veränderungswillen von Unternehmen und Politik. Dieser Widerspruch ist keine Kleinigkeit. Er sorgt für einen Vertrauensbruch zwischen Arbeitgeberin und Arbeitnehmerin. Der gefühlte Anpassungsdruck steht im Widerspruch mit der täglichen Arbeit, der Realität in Wirtschaft und Politik. Es ist die bisher greifbarste Erfahrung der Entfremdung in großen Systemen.

Die Folge: Menschen verlassen auch deshalb Konzerne und beginnen, selbstständig tätig zu werden. Sei es im Privaten oder im Beruflich. In den USA sind bereits 36% der Erwerbsbevölkerung freiberuflich beschäftigt und man geht davon aus, dass es bis Ende des Jahrzehnts bereits 50% sein werden. Wir erleben also auch eine Vereinzelung im Berufsleben und mit ihr verlieren wir auch das soziale Gefüge des Kollegiums, den Rückkopplungsraum im Beruflichen.

Irgendwann reift die Erkenntnis, dass kapitalmarktabhängige Multinationals und Konzerne zu groß für die Art der Veränderung sind, für die man als Individuum eigentlich steht oder einstehen will. Es reift auch die Erkenntnis, dass das Mantra its the economy, stupid die Politik durch zu starke Verflechtung mit der Wirtschaft davon abhielt, dringend notwendige Entscheidungen zu treffen. Oder zumindest hat die Verflechtung dies nicht begünstigt.

Eine weitere Vereinzelungstendenz ist bereits weit fortgeschritten: die Vereinzelung im  Medienkonsum. Noch bis vor wenigen Jahren konnte sich jeder sicher sein, dass ein Beitrag in der 20 Uhr Tageschau weitestgehend von einem Großteil der Bevölkerung gesehen und als wahr anerkannt wurde. Es ermöglichte eine Debatte auf einem Minimum der gleichen Information. Durch die massehafte Nutzung von individualisierten Medien (=social media, algorithmuspriorisierte newsfeeds) jedoch, ist diese gemeinsame Basis gleicher Information verlorengegangen. Und mit ihr auch die Gleichzeitigkeit (=ondemand Medien ersetzen lineare).

Man kann nun eben nicht mehr davon ausgehen, dass ein Gesprächspartner die gleichen Informationen zur Meinungsbildung heranzieht. Die Folge: Gesellschaftlicher Konsens wird immer schwieriger, in einigen Teilen gar nicht mehr möglich (z.B. Promis die keine sind oder Charthits, die keiner kennt). Das führt zu vielerlei neuen Phänomenen, die ich vor einiger Zeit hier bereits erläuterte.

Wenn gemeinsamen Fakten und Wahrheiten fehlen, erschwert dies unweigerlich unsere mehrheitsbasierten, demokratischen Entscheidungsprozesse. Europaweit verlangsamen Vielparteienparlamente und kurzfristige 1-Themenbewegungen, framtentierter Protest und Gegenprotest notwendige Entscheidungen. Ein weites Fortschreiten der Meinungsvereinzelung führt deshalb auch zu Unstetigkeit in Demokratien und hat das Potential, diese in ihrer jetzigen Form zu beenden. Pendeldemokratien, wie in Lateinamerika schwanken zwischen extremen linken und rechten Regierungen, die gemäßigten Mittelwege finden keine Mehrheiten mehr. Eine hyperpolitisierte, fragmentierte Gesellschaft tendiert daher zu Extremen, reinforced sich selbst (das Pendel schlägt zurück) und schafft sich letztlich selbst ab. Daran können auch gefestigte Demokratieren zerbrechen.

Zusammengefasst: Wohin entwickelt sich eine Gesellschaft, wenn sich das traditionelle Familienkonstrukt zu flexiblen Support Bubbles wandelt, wenn die Arbeit und Tätigkeit in Großunternehmen als belanglos empfunden und häufig den eigenen Werten diametral entgegensteht, im großen Maßstab freiberuflich gearbeitet wird, wenn unser nicht-linearer und individualisierter Medienkonsum uns der Konsensbildung beraubt und politisch eine hochvolatile Zeit bevorsteht? 

Menschen ziehen sich zurück ins Private. Ihr Wirkungsraum verringert sich auf das Überschaubare, das "managebare" nahe Umfeld. Support Bubbles könnten eine Renaissance von Kommunen und Kolchosen begünstigen, die nicht wie einst als Gegenentwurf zur autoritären, top-down Gesellschaft gesehen werden, sondern vielmehr als autarke Organisationseinheit in unsicheren Zeiten gelten kann. Leben und arbeiten in der Bubble. Doch wo bleiben die staatlichen Einflussmöglichkeiten in einer ultra-fragmentierten Gesellschaft? Wie sollen unsere auf dem Mehrheitsprinzip basierenden Grundordnung funktionieren, wenn jede Bubble ihre eigenen Wahrheiten, Motive und Interessen verfolgt. Wenn Gewerkschaften unnötig und identitätsstiftenden Arbeit und Nationalstaaten bröckeln?

Die Vereinzelung in allen Lebensbereichen wird neue Wege finden, miteinander zu kooperieren. Ein loses Netzwerk von Support Bubbles scheint hier eine naheliegene Aussicht zu sein.  

 

 

2. Energy Abundance: Von fossiler Abhängigkeit zum Energieschlaraffenland

Strukturbruch:

Die aktuelle Energiekrise macht dauerhaft fossile Energieträger unwirtschaftlich und beschleunigt die Energiewende. Weltweit.

Die Folge:
 
Sicherheitspolitische Überlegungen müssen in der Energieversorgung eingepreist werden. Technische Innovationen und Skaleneffekte verbilligen Erneuerbare dramatisch. Verstromung des größten Teils bisheriger fossiler Energienutzung (Heizung, Mobilität, Industrieprozesse) erfolgt.

Der Ausblick:
 
Der Ausbau erneuerbarer Energien führt zu nahezu unendlicher und beinahe kostenloser Energieversorgung (s.g. energy abundance) und läutet das Ende des Effizienzparadigmas ein und erzeugt den nächsten, langen Kondratjew-Zyklus. 
 
 
Hintergrund:
 

Die gegenwärtige, fossile Energiekrise und das Einpreisen sicherheitspolitischer Abhängigkeiten in unsere Versorgungssicherheit wird die Energiewende beschleunigen. Der Ausbau erneuerbarer Energien ist damit nicht nur klimapolitisch notwendig, sondern ist auch sicherheitspolitisch geboten. Im kürzlich vorgestellten „Osterpakt“ der Bundesregierung sind die Ausbauziele immens; bis 2035 sollen 100% des Primärstrombedarfs erneuerbar hergestellt werden. Auch bietet die Bundesregierung wieder Möglichkeiten, an den Gewinnen der Stromerzeugung beteiligt zu werden. Beides, der Ausbau und die Beteiligungsmöglichkeiten könnten der Durchbruch in die dezentrale Energieerzeugung sein. Und diese Dezentralität bedeutet eben auch Unabhängigkeit gegenüber Rohstoffen zweifelhafte Herkunft und Einzelinteressen von Energiekonzernen. Durch Skaleneffekte werden sich die Kosten für Erneuerbare massiv reduzieren, sodass in absehbarer Zukunft tatsächlich Ökoenergie im Überfluss entstehen wird. Allein durch die natürlichen Schwankungen bei Wind und Sonne werden wir gezwungen sein, deutlich über unserem  Primärenergiebedarf Kapazitäten vorzuhalten, um bspw. auch nachts oder bei Flaute ausreichend Strom zu erzeugen; um 100% Erneuerbare im Netz sicherzustellen. 

Das bedeutet im Umkehrschluss, dass an sonnen- und windreichen Tagen  U n m e n g e n  an überschüssiger und nahezu kostenloser Energie verfügbar sein wird: und die können und müssen wir nutzen.

Paradoxerweise wird genau dieser Umstand der Energiewende den nächsten technologischen Boom auslösen. Das Ende des Effizienzparadigmas.

 Seit den Ölkrisen der 1970er Jahre dominieren in den Ingenieurswissenschaften (aber auch in staatlichen Besteuerungskonzepten) energieeffiziente Verfahren und Innovationsbemühungen. Damit haben wir – aus der Abhängigkeit und Endlichkeit von fossilen Energieträgern aus fragwürdigen Autokratien mit sehr hoher Kostenvolatilität – unsere technischen Möglichkeiten auch immer einer Effizienzbremse unterworfen. Wir haben beispielsweise technologisch die Fähigkeiten und Fertigkeiten, Passagierflugzeuge mit Mach 3 oder mehr fliegen zu lassen. Nur: wir machen es nicht, weil es sehr ineffizient und teuer ist. Wir können auch unsere Wohnungen und Büros vollklimatisieren, machen es aus Gründen der Energieeffizienz aber nicht. Wir könnten der Wasserknappheit mit großen Meerwasserentsalzungsanlagen begegnen, gehen es aber nicht an, weil diese unheimlich energieaufwendig sind. Wir könnten unsere Wohnungen mit innovativen Elektroheizungen beheizen, per Elektrolyse Wasserstoff in Massen herstellen, rechenintensive Verschlüsselungsverfahren nutzen, CO2 aus der Umgebungsluft absorbieren und speichern, Lebensmittel mit künstlichem Sonnenlicht und smarter Bewässerung herstellen, Altplastik unter extrem hohen Druck und Wärme zu Rohöl zurückverwandeln, all das und noch vieles mehr ist technisch möglich und gut erforscht, aber lohnt sich unter fossilen Energiegesichtspunkten nicht.

In einem Szenario des Energieüberflusses (wenn auch nur tage- oder wochenweise) greift das  Effizienzparadigma nicht. Nahezu kostenlose Energie kann dann zu DEM entscheidenden Technologie- und Klimaanpassungsvorteil werden. 

Energy Abundance, der Energieüberfluss wird sich in den nächsten 15 Jahren einstellen und unser ins Mark übergegangenes Effizienzdenken obsolet machen. Erneuerbare Energie im Überfluss ebnet den Weg in einen neuen langen Kondratjew-Zyklus.



Die große Entflechtung: Die De-Globalisierung läuft an und wird durch den Finanzmarkt getrieben werden

 
 
 
Strukturbruch:
 
Die Folgen des Klimawandels erzeugen diffuse und multiple Krisen und begräbt die Ära der Risiko-Berechenbarkeit

Die Folge:

Als Folge gestörter Lieferketten, politischer Unsicherheiten, Sanktionen, Krisen und Kriegen erfolgt eine Abkehr von hochgradig globalisierter Arbeitsteilung hin zu dezentraler, lokaler, hochindividualisierter und digitalisierter Werkstattfertigung. Staatliche Interventionen und Protektionismus für immer größere (systemkritische) Wirtschaftsbereiche dienen als Treiber. Alle Wirtschaftsbereiche müssen chaostheoretisch auf den Prüfstand gestellt werden. Die De-Globalisierung und Entflechtung in der Breite beginnt.

Der Ausblick:

Der stabile und autarke Industrie- und Produktionsstandort als resilientesten Form der Produktivgesellschaft wird zum Staatsziel. Renditeerwartungen von Investorinnen gewichten Renditebeständigkeit (= Resilienz des Betriebs auf externe Schocks) über Renditehöhe. Long-termism löst short-termism am Finanzmarkt ab. Finanzmärkte verlieren ihre Bedeutung als Marktkorrektiv. 
 
Hintergund:

Fossile Energiekrisen in Folge globaler Konflikte sind nicht neu und rütteln alle paar Jahre an den Fundamenten unserer Produktions- und Versorgungssystemen. Neu ist diesmal, dass die globale Lieferkettenprobleme durch die Auswirkungen der Pandemie ohnehin nicht richtig funktionieren. Die Pandemie verläuft nicht synchron, sondern ergießt sich in Wellen über den Erdball. Zwei Jahre nach den pandemiebedingten, großflächigen Schließung von Städten, Häfen und Produktionsstandorten sind die stockenden Warenströme noch allgegenwärtig. Erneute Einschränkungen infolge weitreichender Sanktionen, die sich möglicherweise nicht nur auf Russland beziehen werden, verschärfen das Problem. Die Weltwarenwirtschaft kommt nicht aus dem Krisenmodus, und das ist erst der Anfang.

Denn es verknappen sich aktuell gleich drei wichtige Betriebsmittel der Globalisierung:
  • billige fossile Energie
  • ständige Verfügbarkeit von (Vor-)Produkten und Rohstoffe jeglicher Art sowie
  • Just-in-Time-Logistikkapazitäten (zu Land, Wasser und Luft)

Während hohe Energiekosten „nur“ Preistreiber darstellen, sorgen Probleme in der Logistik und der Vorprodukt-Verfügbarkeit unmittelbar zum Stillstand der heimischen Fließbänder, sind also vielfach verheerender für die Versorgung und Betriebswirtschaftlichkeit als einfach nur höhere Energiepreise.

Die erst kürzlich herangewachsene Erkenntnis, auch Schlüsseltechnologien und strategisch wichtige Produktionskapazitäten wieder in Europa anzusiedeln (z.B. Pharmagrundstoffe, Microchips, Kommunikationstechnik) wird nun durch den Ukrainekrieg diese Liste stark erweitert werden müssen. Denn sollte sich der (Wirtschafts-) Konflikt auf China ausweiten, ist die technologische Abhängigkeit des Westens ungleich größer als die von Russland.

Die Steigerung der Resilienzfähigkeit der Europäischen Wirtschaft ist defacto der Einstieg in die De-Globalisierung. Systemwettbewerb und geopolitische Auditierung in den Produktionsketten werden zukünftig die bisher übliche betriebswirtschaftliche Bewertung globaler Arbeitsteilung auf den Kopf stellen. Es droht ein Jahrzehnt des Mangels, der Knappheit aller möglichen Produkte. Krisensicheres Sourcing wird zum Wettbewerbsvorteil und wird in den Blick von Anlegern und Investorinnen rücken.

Weiterhin machen die mittlerweile stark gestiegenen Einkommen der verlängerten Werkbänke in Ost- und Südostasiatischen Staaten eine Produktionsverlagerung nur noch bedingt betriebswirtschaftlich Sinn. Die globale Arbeitsteilung wird unwirtschaftlich bei verändertem Verhältnis von Rohstoff- zu Arbeitskosten, bei hohen und volatilen Lieferkosten und zunehmend moralisierten europäischen Konsumentinnen. Zukünftig dürfte kaum ein Konzern in der Lage sein, krisenfest Renditen zu erzielen, die Investorinnen nach heutiger Sicht genügen. Wenn demnach die Verfügbarkeit und Dezentralität Renditen absichert, wird notgedrungen auch die Finanzverteilung neu organisiert werden müssen. Damit gewinnt die De-Globalisierung deutlich an Fahrt und sie wird sich als Anlagekonzept behaupten können. Weitergedacht, bedeutet eine de-globalisierten Weltwirtschaft auch in einigen Bereichen Autarkieüberlegungen von „essential goods“ anzustellen. 


Die Folge: gewisse Produktionscluster müssen neu in Europa angesiedelt werden (z.B. Hightech aber auch Kommunikationstechnologie), die allerdings in einer globalisierten Gegenwart nicht wettbewerbsfähig wären. Wir werden also Industriebereiche erleben, die sehr erfolgreich in Europa produzieren und andere, die minderwertige Produkte liefern. Und damit werden wir leben müssen. Jene Regionen und politischen Blöcke, die den besten „Mix“ zwischen Stärken und Schwächen der heimischen Produktion ausbalancieren können, werden in einer de-globalisierten, fragmentierten Welt am zuverlässigsten Renditen abwerfen können und in der Gunst von Kapitalgeberinnen oben stehen. Ein neues Wettbewerbsmerkmal, das heute – in einer hochspezialisierten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft – einer Epochenwende gleichkommt.

Weiterhin werden die Folgen des Klimawandels mit bemerkenswerter Verlässlichkeit diffuse und multiple Krisen erzeugen, die die Ära der Risiko-Berechenbarkeit bzw. Vorhersagbarkeit beendet. Die vom Menschen genutzte Normen und Standards, Berechnungsmodelle oder Annahmen für den Bau und Betrieb von Gebäuden, Produkten, Versorgungseinrichtungen, Kapitalströmen und Renditen, beruhen auf Beobachtungen aus der Prä-Klimawandel-Zeit und werden an einigen Stellen starke Unwuchten bekommen.
 
 
 

In der Folge wird die vernetzte, arbeitsteilige Gegenwart chaostheoretisch in allen Bereichen neu bewertet werden.  Profitabilität ergibt sich auch durch Ressourcenverfügbarkeit und möglicherweise auch durch örtlich mobile Produktionsstätten (nötig durch bspw. Hochwasser, Dürren, Brände). Private und öffentliche Ressourcenzuteilung wird sich danach richten, wie krisenfest Marktwirtschaften und ihre Teilnehmerinnen aufgestellt sind.

Zusammengefasst: Mit diesem Szenario vor Augen wird deutlich, wie stark das Narrativ „It’s the economy, stupid!“ ausgedient hat. Die Übergewichtung wirtschaftlicher Interessen in allen gesellschaftlichen Entscheidungen der letzten 50 Jahre produziert(e) enorme versteckte Kosten (politisch, sozial, ökologisch). Die Allgemeinheit wird diese Kosten auf lange Sicht nicht mehr mittragen. Als Folge gestörter Lieferketten, politischer Unsicherheiten, Sanktionen, Krisen und Kriegen erfolgt daher eine Abkehr von hochgradig globalisierter Arbeitsteilung hin zu dezentraler, lokaler, hochindividualisierter und digitalisierter Werkstattfertigung. Staatliche Interventionen, Protektionismus und neubewertete Renditeberechnungen begünstigen die De-Globalisierung.

Die große Entflechtung in der Breite beginnt. Der stabile und autarke Industrie- und Produktionsstandort als resilientesten Form der Produktivgesellschaft wird zum Staatsziel. Long-termism löst short-termism am Finanzmarkt ab. Finanzmärkte verlieren ihre globale Lenkungswirkung.

 

Die große Unordnung: Warum es nicht zu alarmistisch ist, den Anfang vom Ende der Weltordnung auszurufen

Strukturbruch
 
Die Nordkoreanisierung Russland bedeutet der Anfang vom Ende internationaler Regeln und globaler Ordnungspolitik
 
Die Folge:
 
Flexible Partnerschaften und fragile Frenemy Beziehungen erschweren die internationale Kooperation. Inner- und intrastaatliche politische Blöcke geraten unter Druck und zerfallen zunehmend. Neue Institutionen und Kooperationen werden entstehen (müssen)
 
Der Ausblick:

Staaten zerfallen zu Mikrostaaten und re-organisieren sich in losen Netzwerken.

Hintergrund:
 
Ob Putin bleibt oder nicht, diese Krise wird unweigerlich einen Dominoeffekt auf alle nach dem 2. Weltkrieg entstandenen Institutionen des Völkerrechts zur Folge haben, namentlich: UNO, internationales Seerecht aber auch die WTO, der IWF, ICJ, IAEA bis hin zum Pariser Klimaschutzabkommen. Es gibt schlicht keine Kooperationsanreize für ein isoliertes Putin-Russland, internationale Völkerrechtsvereinbarungen und -bemühungen werden blockiert werden. Und im Falle einer - wie auch immer gearteten - Nachfolgegemeinschaft der Russischen Föderation fehlt auf lange Zeit das politische Gewicht und innere Einigkeit, um den Platz einnehmen zu können. Wer würde anstelle der russ. Föderation im UN Sicherheitsrat sitzen, wenn Russland in 10 Einzelteile zerfällt?

Ein Ignorieren dieser Blockade wie bei Nordkorea oder dem Iran wird nicht funktionieren können bei dem flächenmäßig größten Land der Erde, einer Atommacht, einer Weltraummacht und wichtigsten Ressourcenlager für Mineralien und Rohstoffe. Die aktuelle Weltordnung wird deshalb schwer aufrecht zu erhalten sein. Dementsprechend werden neue Kooperationsformen abseits der aktuellen völkerrechtlichen Institutionen nötig werden, um grundlegende globale Einigungen zu erzielen. Wie diese aussehen können, ist ungewiss.Wie auch immer der Krieg in der Ukraine ausgeht, eines steht fest: Die Nordkoreanisierung Russlands wird auch nach der aktuellen Krise anhalten, der Westen am Tag 1 nach dem Krieg nur bedingt Sanktionen lockern. Zu groß der Vertrauensbruch und die Folgen auf die westliche Lesart der (geo)politischen Großwetterkarte. 
 
Doch auch ein politisch und wirtschaftlich isoliertes Russland bleibt eine UN-Vetomacht. Auf absehbare Zeit, mindestens jedoch bis 2030 wird der UN-Sicherheitsrat nicht beschlussfähig bleiben. Mit der Challenger-Macht China und einem Russland unter Putin werden keine Einigungen mehr erzielt werden können. Selbst wenn Putin diese Krise politisch nicht überstehen sollte, ist es wahrscheinlicher, dass die Russische Föderation in ihre Einzelteile zerfällt, als dass eine demokratischem, entputinisierte und kooperative Staatsführung seine Nachfolge antritt und auf Augenhöhe mit anderen UN-Sicherheitsratsmitgliedern agieren könnte. Die Hegemonie des Westens endet schließlich dort, wo ihre Werte der Aufklärung (Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung) aber auch Kooperations- und Kompromissbereitschaft nicht mehr anerkannt werden bzw. nicht aufgezwungen werden können. Unsere bekannten Institutionen fußen jedoch auf Kooperation und Kompromissbereitschaft. Nationalstaaten müssen von Mitgliedern anerkannt werden, um in den Institutionen mitwirken zu können. Staaten schließen sich zu (Interessens)-Unionen zusammen, um ihren Einfluss insgesamt zu erhöhen. Alle gemeinsam beschließen internationale Standards und Regeln.
 
Mit einem isolierten oder zerfallenen Russland zerfasert nun ein politischer Block. China müsste sich neue „Partner“ suchen. Oder ebenfalls eine Frontalopposition einnehmen, um die Hegemonie des Westen zu schwächen. Im wahrscheinlichsten Falle entstünden flexible Partnerschaften, mitunter Fremeny-Kooperationen, wo jeder mit jedem interessensbasiert zusammenarbeitet, oder eben blockiert. In einem solchen unkalkulierbaren und fluiden Set-Up internationaler Beziehungen ist schiere Staatsgröße und Werteorientierung aber eher hinderlich als vorteilhaft, da international flexible Koalitionen nur für kurze Zeit bestehen und permanente Kursänderung innenpolitisch schwer zu rechtfertigen sein werden. Zentrifugalkräfte innerhalb großer Nationalstaaten (siehe USA, Frankreich, Indien etc.) schwächen zusätzlich die Verhandlungsmacht in fluiden Beziehungen. Daher erscheint es als wahrscheinlich, dass Nationalstaaten langfristig in kleinere, autonome Fragmente zerfallen - in Mikrostaaten - und diese sich in Interessensnetzwerke neu organisieren müssen. Wenn das eintritt, ist (fast) alles möglich: Eine Union der Mega-Städte, autoritäre Macho-Netzwerke, eine Hanse 2.0, Atheisten-Allianzen oder Elon-Musk-Fanboy-Freistaaten. In jedem Falle kleinteilig und unübersichtlich.
 

Fazit und Ausblick: The new new modern

 


Zusammengefasst komme ich zu der Einschätzung, das die vielen Strukturbrüche tatsächlich das Ende der Moderne andeuten. Die Zukunft bleibt ungewiss, klar, jedoch scheint mir eine Fragmentierung aller Bereiche und Institutionen als sehr viel wahrscheinlicher, als ein Fortbestehen oder gar eine Ausweitung von bekannten Vereinigungen, Konstrukten und Verbünde. Interessanterweise ist dies in der Konsequenz in Gesellschaft, Wirtschaft und konstitutionellen Gebilden gleichermaßen zu beobachten. 
 
Wie das neue Moderne aussieht? 
 
In meiner Vorstellung ein Netz von Support Bubbles, die in flexiblen Interessensgemeinschaften auf Microebene Handel betreiben. Ein meta-demokratisches System, dass neue Wege der Selbstorganisation innerhalb der Bubble entwickelt, aber auf lateraler Ebene auf wertebasierte Netzwerke und organisatorischen "Betriebssystemen" beruht. Ich könnte mir gut vorstellen, dass die Theorie der Kybernetik in einem Microstaatennetzwerk völlig neue, sehr fortschrittliche Möglichkeiten bietet, die die individuelle Selbstbestimmung mit der notwendigen Kooperation von Inputs und Outputs organisieren könnte. Dies vorausgesetzt, stünde uns eine gute Zukunft voraus!

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Florian
 

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