Zeit ist das neue Geld

1/31/2020 10:52:00 PM

Zeit ist das neue Geld



Zeit ist etwas sehr sonderbares. Sie ist relativ, sie ist subjektiv, nicht vermehrbar und letztlich für uns Menschen endlich. Die Zeiteinheiten Woche, Stunde oder auch die Sekunde sind Erfindungen der Menschheit. Wir hätten auch eine Woche mit 5 oder 10 Tagen definieren können, Wochentage und Wochenenden existieren zudem auch nicht in der Natur. Wir haben sie geschaffen um unser Gesellschaft besser zu organisieren. Das durchschnittliche mitteleuropäische Herz eines Menschen schlägt in etwa 2,800,000,000,000 mal und das ist letztlich unser verfügbares Zeitbudget. In modernen Gesellschaften wird viel getan, um unsere Zeit besser zu nutzen. Wir entwickeln ständig neue Technologien, um schneller von A nach B zu kommen, um Dinge automatisch oder weniger zeitaufwendig zu erledigen. Technologie hilft uns, mehr Tätigkeiten in kürzerer Zeit zu schaffen. Aber sobald eine Technologie eine gewisse Marktdurchdringung erlangt hat, egalisiert sich häufig der Zeitvorteil:
Beispiel 1: Eine Autofahrt in der Rushhour von Berlin Steglitz nach Berlin Pankow dauert etwa eine Stunde. Individuelle Verkehrsmittel sind zwar in der Lage, die Strecke von ~20km deutlich schneller zurückzulegen, aber durch die immense Zunahme des Gesamtverkehr auf den Straßen, Staus und deren Regelung durch Ampeln und Verkehrsberuhigung, ist der Zeitvorteil schneller Autos egalisiert. Die Fahrt dauert ebenso lange wie vor der Erfindung des Automobils: nämlich eine Stunde mit dem Fahrrad.
Beispiel 2: Vor Erfindung der E-Mail verbrachten Büroangestellte etwa zwei Stunden pro Tag zur Erledigung ihrer Korrespondenz. Mit digitalen Kommunikationsmitteln hat sich die Zeit, die für Briefe und Telegramme schreiben notwendig war, zwar erheblich reduziert, aber die Menge der zu erledigenden Korrespondenz (Telefonkonferenzen, E-Mail-Flut, Slack und Skype Chats) hat sich massiv vervielfacht, womit im Jahre 2019, über 30 Jahre nach der Einführung digitaler Kommunikationsmittel, der Büroangestellte wieder mindestens 2 Stunden pro Tag für die Korrespondenz benötigt. Der Zeitvorteil des technischen Fortschritts ist dahin.
Beispiel 3: Der eCommerce ist nur deshalb erfolgreich, weil es dem Konsumenten verspricht „bequem von zu Hause“ einkaufen zu gehen, also Zeit beim Konsum zu sparen. Dieses Versprechen hat den eCommerce Sektor gewaltig wachsen lassen. Dass der Käufer heute aus einem Sortiment von über 100.000 und mehr Artikeln auswählen kann, macht den Zeitvorteil allerdings zunichte, den es eigentlich versprach. Die Auswahl des richtigen Produktes dauert häufig länger, als in den nächstgelegenen Einzelhandel zu gehen. eCommerce hat sich übrigens in jenen Bereichen am schnellsten ausgebreitet, wo der Konsument bereits vorher wusste, was er kaufen will: Bücher, Technik, Reisen. Und er ist weniger profitabel in Bereichen, wo Informationen und Inspiration nötig sind: Lebensmittel, Kleidung, Wohnen und Baumärkte.
Was ich damit aufzeigen will, ist, dass technische Innovationen nicht automatisch zu mehr verfügbarer Zeit führen und wir uns sehr genau überlegen müssen, wofür wir unsere 24 Stunden pro Tag einsetzen wollen und wie unsere Gesellschaft Technologie nutzen kann, damit am Ende tatsächlich mehr Zeit bleibt. Denn nur technische Beschleunigung in unserem Alltag zu verankern, bedeutet keineswegs dass wir auch „gefühlt“ mehr Zeit haben oder unsere zusätzlich gewonnen Zeit sinnvoll verbringen. Wer also glaubt, dass technischer Fortschritt uns automatisch einen ewigen Urlaub – das Ende der Arbeit – bescheren wird, wird enttäuscht werden. Der Grund: Geld ist Zeit und Zeit ist Geld.

Zeitkapitalismus

Adam Smith entwickelte im späten 18. Jahrhundert einen unfertigen aber überaus interessanten Gedanken namens Arbeitswerttheorie. Er besagt, dass Wertschöpfung nur durch menschliche Arbeit erzeugt werden kann. Jede Maschine, die Güter erzeugt, kann lediglich den Maschineneigenwert auf die von ihr erzeugten Produkte übertragen. Beispiel: Der Wert einer Maschine, die durch Ingenieure und Mechaniker, also durch menschliche Arbeit hergestellt wurde, beträgt 1000 Stunden. Die Maschine stellt 1000 Güter her bevor es produktionsnotwendige Dinge, Werkzeuge, Wartung, Nachschub oder Pflege bedarf. Folglich kann der Wert (nicht Preis) der erzeugten Güter nur eine Stunde Arbeit (=1000h / 1000 Güter) betragen, bevor der Mensch bei Instandhaltungsarbeiten weiteren Wert hinzufügen muss. Ist die Maschine kaputt, kann sie keinen weiteren Wert auf neue Güter übertragen. Es braucht Arbeit um die Produktion am Laufen zu halten.
Dieser als „linke“ Theorie eingestufter Gedanke wurde zwar durch Marx und viele weitere Ökonomen kritisch betrachtet, weiterentwickelt, verworfen und kontrovers diskutiert, ist aber immer noch hochaktuell: keine Wertschöpfung durch Software-Codes oder Smartphone Apps, ohne das Hinzufügen von Softwarepflege, Serverwartung, Internet- und Energieversorgung. Es existiert kein funktionierender Algorithmus, der nicht von Menschen (Data Engineers und Data Scientists) angelernt oder gewartet werden muss und bei selbstlernenden Systemen (Machine Learning, Künstliche Intelligenz) durch den „Wert“ der von Menschen erzeugten Daten gefüttert werden muss, um eigenständig Entscheidungen zu treffen. Auch im post-industriellen Zeitalter scheint die menschliche Arbeit die wichtigste Ressource zu sein, die Wert schöpft und eben nicht Maschinen, Grund und Boden oder das Kapital.
Wenn also die menschliche Arbeit der Ursprung der Wertschöpfung ist, dann sind unsere geleisteten Arbeitsstunden der Quell des Wohlstandes und das Kapital lediglich die Heuristik, die bestimmt, wo Arbeit am wertvollsten einzusetzen ist. Unternehmer und Kapitalgesellschaften sind heute mehr denn je darauf angewiesen, dass Menschen Werte schaffen. Vielleicht nennen wir es nicht immer „Arbeit“, aber ein Konzern wie Facebook ist darauf angewiesen, dass Menschen ihre Erlebnisse mit anderen Nutzern teilen, Fotos hochladen, Beiträge liken, also “Arbeitszeit” auf ihren Plattformen verbringen. Würden die menschlichen User nicht Inhalte bereitstellen (Zeit investieren), wären die Timelines der Facebooks und Twitters gähnend leer und somit wertlos für den Nutzer, der dort Zeit verbringt.
Ich arbeite in einer Unternehmensberatung und auch in dieser Dienstleistungsbranche wird es offensichtlich: In Rechnung gestellt werden menschliche Arbeitsstunden. Je besser das Team, die Arbeitserfahrung und Kreativität der Mitarbeiter, desto höher ist die Wertschöpfung und der damit zu erzielende Preis pro Arbeitsstunde. Alle Dienstleistungsbranchen funktionieren so und sie machen einen immer größeren Teil der Gesamtwertschöpfung unserer Gesellschaften aus.
Ich bin kein Ökonom oder Philosoph, aber gehen wir für den Moment davon aus, das die Arbeitswerttheorie richtig ist. Müssten dann nicht in Tarif- und Gehaltsverhandlungen aus Arbeitgebersicht immer eine Erhöhung der Arbeitszeit, und aus Arbeitnehmersicht immer eine Verknappung der Arbeitszeit angestrebt werden? Nach dem Angebot-Nachfrage-Prinzip würde dann der Arbeitsstundenpreis verhandelt werden, sprich der Lohn.
Frage an die Leser: Wie hast du während deiner letzten Gehaltsverhandlung einer aus deiner Sicht gerechtfertigten Erhöhung gerechtfertigt? Über deine bessere Leistung, größere Verantwortung, höhere Flexibilität oder Engagement? Oder hast du deine verfügbare Arbeitszeit als Verhandlungsmasse genutzt? Ich tippe auf ersteres. 
Wie würde ein Gehaltsgespräch ablaufen, wenn der Arbeitgeber eine Vergütung vorschlägt und der Arbeitnehmer die maximalen Wochenarbeitsstunden angibt, die er bereit ist für dieses Geld zu arbeiten? Es wäre eine völlig andere Verhandlung, weil sie den wertschöpfenden Teil des Arbeitnehmers in den Mittelpunkt stellt und nicht den zu erzielenden Verkaufspreis, den ein Arbeitgeber durch die Wertschöpfung abschöpfen könnte. Der Acht-Stunden-Arbeitstag und die Fünf-Tage Arbeitswoche wären die Ausnahmen und nicht die Regel.
Im Übrigen müssten in einer solchen Welt die Bezeichnungen Arbeitnehmer und Arbeitgeber getauscht werden. Arbeiter würden zu Wertschöpfunggeber und Unternehmen zu Wertschöpfungnehmer, was das Kräfteverhältnis zwischen den beiden Verhandlungspartnern auf den Kopf stellen würde.
In der Mitte des letzten Jahrhunderts war das Kräfteverhältnis zwischen den Verhandlungspartnern noch deutlich näher an der Parität als es seit 1990 der Fall ist. Parteien und Gewerkschaften wussten um die Bedeutung der Arbeiter und ihrer Arbeitszeit für den unternehmerischen Erfolg. Man organisierte sich und konnten kontinuierlich höhere Löhne bei geringeren Arbeitszeiten durchsetzen. Von 1960 bis 1990 ist der Reallohn um 20% gestiegen bei einer um 20% gesunkenen geleisteten Jahresarbeitsstunden pro Erwerbstätigen. Die Produktivität ist im gleichen Zeitraum enorm angestiegen (+90%), d.h. es konnte höherer Output in weniger Arbeitszeit bei besserer Bezahlung erzeugt werden. Selbst die um 16% gewachsene Zahl Erwerbstätiger leisteten zusammen rund -15% weniger Arbeitsstunden als noch 1960. 

Doch von 1990 bis 2018 wendete sich das Blatt: Zwar ist die Zahl der Erwerbstätigen wieder um knapp 16% gestiegen, aber die geleisteten Gesamtarbeitsstunden sind nicht gesunken, sondern um 2% gewachsen. Wer jetzt denkt, die Erwerbstätigen hätten statt weniger zu arbeiten, höhere Löhne erkämpft, täuscht sich: Die Reallöhne sind 1990-2018 mit einem Wachstum von 2% nahezu stagniert. Und die Produktivität? Um 34% gestiegen. Wie kann das sein?

Unternehmen erkannten, dass Wettbewerb im Arbeitsmarkt die Löhne senkt, ohne den für den Output notwendigen Arbeitsaufwand zu verringern. Zuwanderung, eine Aktivierung der Arbeitsreserven (Jugendliche, Arbeitslose, Frauen, Rentner) führten zu einer Vergrößerung des verfügbaren Arbeitskräftepotential bei gleichzeitig gestiegenem Arbeitnehmerwettbewerb. In Deutschland hat sich seit 1990 die Entwicklung der Löhne und Arbeitszeiten von dem weiterhin anwachsenden Bruttoinlandsprodukts entkoppelt, erstmalig in der Geschichte der Bundesrepublik! Mehr Menschen wurden dem Arbeitsmarkt hinzugefügt aber die Wochenarbeitszeit ist konstant geblieben, folglich stieg die Nachfrage nach Arbeit und die Reallöhne sanken.

Aus Arbeitgebersicht ist damit ein Rad ins Rollen gekommen, dass erhebliche Profite ermöglichte:
1. Mehr Menschen arbeiten, d.h. mehr Wert wird geschöpft. (Arbeitswerttheorie)
2. Das Arbeitszeitangebot übersteigt die Arbeitszeitnachfrage, d.h. Reallöhne sinken  (Preistheorie)
3. Immer mehr Haushalte benötigen aufgrund gesunkener Reallöhne ein Zweit- und Dritteinkommen, d.h. mehr Menschen stellen ihre Zeit dem Arbeitsmarkt zur Verfügung die wiederum Punkt 1 und 2 antreiben)
Die auseinandergehende Schere von Wertschöpfung und Wertverteilung wirft eine wichtige Frage auf: Wo ist der Wert geblieben, der durch Milliarden zusätzlich geleisteter Arbeitsstunden zwischen 1990 und 2018 erzeugt wurde?
Es gibt drei Gewinner dieses Systems:
  1. Vermögende, die Kapital bereitstellen um an der Arbeitsleistung Dritter zu verdienen
  2. Konzerne, die ihren Unternehmenswert durch die enorme zusätzliche Wertschöpfung mehr als verzehnfachten
  3. Der Staat, da er an jeder zusätzlich geleisteten Arbeitsstunde Steuern und mit jedem weiteren Erwerbstätigen Sozialabgaben einnimmt
Es ist ein mächtiges Dreigespann, das keinerlei Interesse daran hat, dass die Erwerbstätigen ihre Arbeitszeiten verringern. In diesem Kontext muss man die internationalen Finanzinvestitionen betrachten, die Unternehmensentscheidungen (Outsourcing, globale Arbeitsteilung, Fachkräftemangel) bewerten und letztlich auch die neoliberalen Staats- und Sozialreformen (Schwächung der Gewerkschaften ab 1970, Arbeitsmarktflexibilisierung, Beschäftigungszwang durch Sozialreformen/Hartz Gesetze) sehen:
Es sind Maßnahmen zur Vergrößerung der Gesamtarbeitsvolumen um eine höhere Wertschöpfung durch menschliche Arbeit zu erwirken. 

Ich halte diesen Trend für wenig zukunftsweisend. Einmal davon abgesehen, dass es einer gewaltigen Umverteilung von Wertschöpfenden zu Wertverwaltenden gleich kommt, sehe ich vorwiegend den unterdrückten technischen Fortschritt als Kernproblem dieser Mechanik. Bis 1990 ist der Produktivitätszuwachs auch den Arbeitern und Arbeiterinnen durch mehr frei verfügbare Zeit (kürzere Arbeitszeiten/mehr Urlaub) zu Gute gekommen. Je nach Dringlichkeit haben Gewerkschaften für höhere Löhne oder kürzere Arbeitszeiten gekämpft. Der Arbeitgeber konnte lediglich durch höhere Produktivität seine Profitabilität steigern. Seitdem die Arbeitszeiten aber nicht mehr sinken, fehlten Anreize zur Prozessoptimierung und lässt die Produktivitätszuwächse stagnieren und zwar in allen westlichen Volkswirtschaften seit über 30 Jahren. Wenn ein knappes Gut, in diesem Falle die Arbeitszeit, nicht mehr knapp ist, fehlt der Anreiz zur Optimierung. 
Quelle: Postkapitalismus - Grundrisse einer kommenden Ökonomie; Paul Mason; suhrkamp 2016
Aus Unternehmenssicht ist es durch das Überangebot von Arbeitskräften eben einfacher, Wachstum durch „Human Resources“ zu erzielen als durch eine höhere Produktivität. Der Staat selbst hat sogar diese Entwicklung gefördert, indem er direkte Steuern auf Arbeit seit 1990 gesenkt aber indirekte Steuern erhöht hat (Mehrwertsteuern z.B.) Das heißt, er besteuert weniger die Wertschöpfung als vielmehr den Konsum und setzt Anreize, mehr zu arbeiten um mehr zu konsumieren. So wurden wir von Bürgern zu Konsumenten, auch aus der Perspektive des Staates.

Sozialer Effekt des Zeitkapitalismus

Gleichzeitig hat sich der Alltag der Beschäftigten enorm verdichtet. Dadurch, dass beide Elternteile zum Haushaltseinkommen beitragen müssen um über die Runden zu kommen, verschärft sich die binnen-familiäre Arbeitsteilung. Besserverdienende lagern Kindererziehung, alltägliche Dinge wie Einkaufen, Kochen und Putzen an „Dienstleister“ aus, um neben dem Job noch etwas Freizeit haben zu können. Geringverdiener müssen in Teilzeit gehen, da ihre Einkommen nicht ausreichen um zeitraubende Hausarbeit auszulagern und verarmen Zusehens. 
Jede Familie, die in der „Rushhour“ des Lebens steht, wird bestätigen können, dass Zeitmanagement, Selbstoptimierung und Selbstaufopferung die einzigen Wege sind, um den Spagat zwischen Job und Familie zu meistern. Wenn das Zeitbudget nicht reicht, wird weniger geschlafen und Freizeit gestrichen.
All dies wiederum befeuert die tatsächliche und gefühlte persönliche Zeitknappheit, die wir aus dem Auseinanderdriften der geleisteten Arbeitsvolumen und den Vermögensverteilung erleben. Zeit ist das neue Geld. Reich ist, wer sich viel Freizeit leisten kann: durch Personal Assistance, Lieferdienste aller Art (Lebensmittel, Bügelwäsche, selbst die Fahrt zur Autowerkstatt wird abgegeben), Au-pair-Mädchen oder Gärtnern. Es wird stetig an der Freizeit optimiert um mehr „erlebbare“ Zeit zu erlangen. Das kostet natürlich viel Geld und deshalb ist es auch nicht mehr möglich, die Arbeitszeit zu reduzieren. Interessanterweise reagieren wir also auf die Zeitverdichtung unseres Alltags nicht mit einer Arbeitszeitverkürzung sondern mit einer perfekt durch optimierten Hausarbeits- und Freizeit. Offensichtlich wird dies, wenn man den stetig wachsenden Anteil an Carearbeit und Bullshit Jobs betrachtet: Hundesitter, Deliveroo-Fahrer, Sneaker-Reinigungsdienste sind nur einige Beispiele dieser Bullshit Jobs, die nur deshalb existieren, weil wir unsere Freizeit zu optimieren versuchen.

Wenn wir die schleichende Wertumverteilung, die damit verbundene Zeitverdichtung und -knappheit als Bürger nicht akzeptieren wollen, ergeben sich drei wesentliche Handlungsfelder:
  • Wir müssen das Interesse des Kapitals, der Arbeitgeber und des Staates an unserer Lebenszeit verstehen und für unsere Zeit kämpfen
  • Wir müssen freie Zeit als Wohlstandsfaktor begreifen und sie vermehren wollen
  • Wir müssen die Arbeitszeit statt die arbeitsfreie Zeit optimieren


Zeitwohlstand 

Stellen wir uns vor, es gäbe eine Partei, die den Wählern nicht mehr Geld, sondern mehr Zeit versprechen würde: Mehr Lebenszeit, mehr Zeit für Familie und Freunde, mehr Zeit für Gartenarbeit und Muße. Würde man mit diesem Versprechen Wahlen gewinnen? Wissenschaftler nennen  das Zeitpolitik. Angenommen in unserer Gesellschaft würde Zeitpolitik betrieben: Sie würden versuchen, zu allererst „Zeitfresser“ zu reduzieren, das heißt repetitive oder lästige Aufgaben zu optimieren, zu automatisieren oder ganz zu vermeiden. Das umfasst Steuerangelegenheiten, Behördengänge, Wartezeiten im Allgemeinen, in anderen Worten: Entbürokratisierung mit dem Ziel, Prozesse und Genehmigungsverfahren zu beschleunigen oder obsolet zu machen. Sicher keine schlechte Idee.
Als weiteren Punkt würde die Zeitpolitik gewiss die verschwendete Zeit für Pendelei und Reisen zu verkürzen versuchen durch Förderung von Homeoffice oder Telearbeit, durch dezentralisierte  Arbeits- und Wohngebieten, durch Optimierung der Verkehrsflüsse und auch durch Investitionen in neue, bessere Infrastruktur für Liefer- und Pendelverkehr. Sicher auch keine schlechte Idee!
Genauso wie man Zeit bei lästigen Tätigkeiten einsparen kann, könnte man ebenfalls versuchen, die verfügbare Zeit als Ganzes zu erhöhen, also die Lebenserwartung durch eine bessere Gesundheitsvorsorge, intensivierte Krebsforschung sowie frühere und bessere Pflege zu erhöhen. Da wird sicher auch niemand etwas dagegen haben.
Man würde sicher auch beginnen, die extreme Zeitkomprimierung am Anfang eines Menschenlebens zu reduzieren, dementsprechend Kinder erst wieder mit 7 Jahren einschulen und 13 Jahre Zeit geben bis zum Abitur oder auch das Bachelor/Mastersystem dekomprimieren. Dies geschehe aus dem einfachen Grund, da durch die gestiegene Lebenserwartung natürlich auch mehr „Arbeitszeit“ im späteren Teil des Lebens gewonnen werden könnte. Das Renteneintrittsalter mit 70 klingt deutlich weniger abschreckend, wenn man erst mit 30 Jahren in das Berufsleben startet. Ein Lebensmix von 30-40-30 Jahre (30 Jahre bilden – 40 Wert schöpfen – 30 Erfahrungen teilen) klingt bei einer Lebenserwartung von 100 Jahren doch viel plausibler als der aktuell angestrebte 20-40-40 Mix, wobei die letzten 40 Jahre des Lebens offenbar der Gesellschaft als Bürde statt als Errungenschaft verkauft wird.
Und letztlich würde eine Zeitdimension in der Politik auch dafür Sorge tragen, dass Produktivitätszuwächse wieder den Beschäftigten zu Gute kommt, d.h. weniger tägliche Arbeitszeit für alle. Bei den herumgeisternden Schreckensszenarien des zweiten Maschinenzeitalters (Digitalisierung und KI) sollen ohnehin weniger Arbeit zur Verfügung stehen als Arbeitskräfte vorhanden sind. Warum also nicht die dann noch vorhandene Arbeit auf mehreren Schultern verteilen und jeden erzielten Produktivitätszuwachs in Zeitzuwachs umwandeln. Eine solche Belohnungslogik, auch für die Wirtschaft und Industrie im Übrigen, würde Angestellte und Arbeiter wieder motivieren, Prozesse zu optimieren, technische aber auch kommunikative Innovationen zu entwickeln, da Angestellte an der gestiegenen Wertschöpfung - nämlich mehr verfügbare freie Zeit - direkt profitieren würden. 
Hypothetisch gefragt: Wer wollte nicht eine Drei-Tage-Arbeitswoche? Wer wollte nicht Arbeitsbeginn und -ende nach seiner persönlichen inneren Uhr richten. Wer wollte nicht weniger unnötige Meetings? Wer wollte nicht mehr Zeit mit Hobbies oder Familie verbringen? Wer wollte nicht weniger im Stau stehen oder im Wartezimmer eines Arztes sitzen müssen? Konsequente Zeitpolitik würde genau dies als Aufgabe haben.
Man stelle sich nun vor, dass Unternehmen nicht nach Umsatzrenditen sondern nach Zeitrenditen und Zeitprofite bewertet würden. Produkte und Dienstleistungen würden dort produziert und geleistet werden, wo sie am schnellsten (und daher am effizientesten) herzustellen sind. Dienstleistungen könnten deutlich massiver den Vorteil der Zeitverschiebungen nutzen, da sie etwas für Europäer anböten, was in der europäischen Nacht schlicht keiner machen kann oder will. Utopisch die Idee, dass in einer vollkommen globalisierten Welt ein Lehrer aus Thailand die Klausuren deutscher Schüler über Nacht kontrolliert, während ein deutsches Ingenieursteam die thailändische Nachtschicht einer Produktionsüberwachung übernimmt. Je mehr das produzierende Gewerbe automatisiert wird, desto einfacher kann die Verteilung der digitalisierbaren Aufgaben über den Globus erfolgen, vorausgesetzt die Anforderungen an Bildung, Qualität und Wertevorstellungen sind halbwegs ähnlich. In vielen Industrien ist das keine Zukunftsmusik sondern heute schon Alltag. In globalisierten und zeitkritischen Branchen wird globale Arbeitsteilung seit Jahren betrieben, etwa in Unternehmensberatungen, in der Finanzwelt oder in der Software- und Datenmodell -Entwicklung mit ihren „distributed“ teams.
Die Logik des Zeitprofitstrebens würde natürlich allerhand Branchen in den Ruin treiben, allen voran Branchen, die uns Zeit „kosten“: Die Werbe- und Digitalkonzerne zum Beispiel. Heute ist die Zeit, die Nutzer auf Plattformen verbringen die wichtigste Kennzahl in digitalen Unternehmen, sei es Social Media Plattformen, eCommerce und allen werbefinanzierten Medienangeboten. Unternehmen wie Facebook und Google, aber auch werbefinanzierte Online-Games verdienen nicht mit Reichweiten oder Daten Geld, sondern mit der Zeit, die ihre Nutzer auf den Plattformen verbringen. Die Logik dahinter: Wenn ein User mehr Zeit auf Facebook verbringt, können schlicht mehr Werbeanzeigen verkauft werden; ein fundamental anderes Konzept als noch klassische Medien, die Reichweiten (Auflagenstärke, Einschaltquoten) verkauften. Diese neue Prämisse führt zu grotesken Auswüchsen von „Gamification“, also Anreiz- und Belohnungssystemen, die den Nutzer immer länger auf ihren Plattformen halten. Das Infinite Scrolling (Social Media/Websites), Autoplay, automatisch abspielende Videos (Youtube, Twitter, etc), Recommendation Engines (Outbrain, Netflix, Amazon), Rewards, Batches, Rankings und selbst die Anzahl der Follower und Likes sind Funktionen, die dafür entwickelt wurden, mehr Zeit auf diesen Plattformen zu verbringen, um letztlich mehr Werbung ausspielen zu können. 
Datenkonzerne sind vielmehr Zeitkonzerne, die mithilfe von Nutzerdaten ihre Angebote optimieren um ihr Anzeigeninventar zu vergrößern. Oder anders ausgedrückt: Es wäre so, als ob die gedruckte Version vom Spiegel aufgrund deiner Interessen nach jedem gelesenen Artikel eine weitere Seite am Ende des Heftes hinzufügt, um darin mehr Werbung zu platzieren.
Nun, wenn also die wertvollsten Digitalunternehmen der Welt Profit mit unserer Zeit (oder Arbeit) machen und immer mehr Branchen „digitalisiert“ werden, liegt der Schluss nahe, dass nicht die Daten das Öl des 21. Jahrhunderts sind, sondern die Zeit der Menschen. Time is money! Es ist letztlich ein Wettbewerb um Aufmerksamkeit und damit um das einzig knappe Gut der Menschheit: Zeit - denn nur Zeit ermöglicht Konsum.
Ein Hinweis dafür kann die Preisentwicklung von Produkten und Dienstleistungen der letzten 20 Jahre in den USA sein. Wie man dort sehen kann, werden jene Dinge teurer, die existentieller Natur sind oder uns zusätzlich Zeit verschaffen können: Gesundheitsversorgung, Bildung, (denn gebildete Menschen leben länger), Kinderbetreuung, Wohnen und Nahrung.
Produkte jedoch, die Zeit kosten - sei es im Erwerb oder in der Benutzung - fallen, teils stark im Preis: Kleidung, Software, Smartphones, Fernseher. Mobilität bildet eine interessante Ausnahme, denn sie kann auch Zeit „schöpfen“, während wir Zeit mit ihr verbringen.
Wenn also Dienstleistungen und Produkte sich verbilligen, die um unsere Aufmerksamkeit wetteifern, muss folglich ein Geschäftsmodell mit unserer verfügbaren Zeit dahinter stecken. Würde jeder Mensch bewusster mit seiner Zeit umgehen, könnten Konzerne wie Facebook, Netflix oder andere Medien nicht funktionieren, denn bei jedem Scrollen, bei jeder weiteren automatisch gestarteten Folge einer Serien würden wir abwägen, ob das durch unsere Arbeit und den Produktivitätszugewinn „erwirtschaftete“ zusätzliche Zeitbudget es wirklich wert ist, zwei Stunden unserer Zeit auf Instagram zu verbringen. Und das steckt letztlich hinter der Idee des Zeitwohlstandes: Mehr Zeit zur Verfügung zu haben und diese nicht dem Konsum, sondern sinnstiftenden und sinnvollen Dingen zu widmen. 

Auch beim Staat muss ein Umdenken stattfinden. Der überwältigende Anteil der Steuereinnahmen wird durch die Lohn- und Einkommenssteuer sowie Konsum- und Verbrauchssteuer generiert. Hauptinteresse des Fiskus ist mehr Arbeit und mehr Konsum. Das steht aber im Widerspruch zu dem, was die meisten Menschen wirklich wollen: Leben.

„Vor einigen Jahren veröffentlichte die australische Autorin Bronnie Ware ein Buch mit dem Titel ‚5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen. Darin schilderte sie ihre Gespräche mit Patienten, die sie als Krankenschwester gepflegt hatte. Keiner dieser todkranken Menschen bereute, sich nicht eingehender mit den PowerPoint-Präsentationen seiner Kollegen befasst oder nicht ein wenig mehr über die bahnbrechende Co-Creation in der vernetzten Gesellschaft nachgedacht zu haben. Am meisten bedauerten die Menschen, dass sie nicht ihr eigenes Leben gelebt hatten, sondern eines, das ihre Umwelt von ihnen erwartet hatte. Und ihre zweite Klage: ‚Ich wünschte, ich hätte nicht so hart gearbeitet‘.
Aus Utopien für Realisten, Rutger Bregman, Rowohlt 2018
Der Staat muss also andere Einnahmequellen finden, die im Einklang mit den wichtigen Dingen im Leben stehen. Er könnte z.B. Vermögen hoch besteuern, denn diese können nach der Arbeitswerttheorie ja nur durch die Ausbeutung von menschlicher Arbeit entstanden sein. Aktuell tut er dies überhaupt nicht.
Er müsste auch entschiedener den Output der Unternehmen besteuern, um sie sowohl bei der Finanzierung der Gemeinschaftsaufgaben stärker zu beteiligen als auch Produktivitätssteigerungen anreizen. 

Die Kapitalertragsteuer müsste höher sein als die Lohnsteuern, da auch Renditen und Zinsen nur durch menschliche Arbeitszeit realisiert worden sein können. Doch aktuell tragen Kapitalertragssteuern nur geringfügig zum Staatsetat bei (rote Linie unten). Im Ranking der Staatseinnahmen stehen Arbeit, Konsum, Unternehmenserträge und erst an vierter Stelle das Kapital. Ein Umstand, der in einer Logik der Wertschöpfung durch Arbeit (Zeit) nicht mehr tragbar ist.
Quelle: Bundesministerium für Finanzen | Eigene Darstellung
Auch auf der Ausgabenseite ließe sich einiges ändern. Wenn den Beschäftigten wieder deutlich mehr persönliche Freizeit zur Verfügung stehen würde, könnten sie sich wieder selbst um die Kinderbetreuung und Angehörigenpflege kümmern. Sie könnten verstärkt im Ehrenamt, in der Nachbarschaftshilfe, in sozialen Einrichtungen tätig sein und den Staat in diesen Bereichen entlasten oder überflüssig machen. Auch könnte die neu gewonnene Freizeit wieder den weniger “produktiven” Dingen des Lebens gewidmet werden: den Hund spazieren führen oder die Wohnung putzen. Es würde zwar die Bullshit Jobs im Niedriglohnsektor gefährden, aber die Niedriglöhner und der Staat selbst verdient ohnehin nicht viel dabei - im Gegenteil: Der Fiskus subventioniert Bullshit Jobs über Aufstockung und Basisrenten/Grundsicherung über kurz oder lang mit sehr viel Geld - eine Subvention die nur dazu dient, unsere Freizeit zu optimieren, damit wir mehr arbeiten und mehr konsumieren können? 

Und auch eine nahezu digitalisierte und automatisierte Verwaltung könnte enorme finanzielle Kräfte freisetzen, die wiederum Steuererhöhungen obsolet machen könnte. Es scheint allerhand Einsparpotential zu geben, würden wir bewusster unsere Zeit verbringen!
Wohin mit all der neuen Zeit?


Die hinlänglich bekannte Maslowsche Bedürfnispyramide wurde in den 1970er Jahren um eine Stufe erweitert: Die der Selbstverwirklichung. Am Anfang stehen physiologische Bedürfnisse, dann Sicherheitsbedürfnisse, soziale Bedürfnisse und Individualbedürfnisse, bevor es an die Selbstverwirklichung gehen kann. Der Mensch strebt nach Maslow zur nächst höheren Stufe, sobald die darunterliegenden befriedigt sind. 

Impliziert bedeutet das aber auch, dass sich nur diejenigen selbst verwirklichen können, die am wenigsten ihrer verfügbaren Zeit für die Befriedigung der vorherigen Bedürfnisstufen aufwenden müssen.

Daher glaube ich, dass der überbordende Konsum der Individualbedürfnisse zwangsläufig verringert werden wird, um mehr Zeit für die Selbstverwirklichung zu gewinnen. Konsum und Entertainment kosten Zeit - zu viel Zeit, wenn man diese auch für die Befriedigung des Selbstverwirklichung hätte aufwenden können. Reiche und Wohlhabende sind derzeit die Einzigen, die nicht auf Einkünfte durch eigene Arbeit angewiesen sind. Sie allein bestimmen darüber, wie sie ihre Zeit nutzen wollen. Das sollte auch unser Streben in einer Gesellschaft von morgen sein.
Dabei kann Selbstverwirklichung alles Mögliche bedeuten; der eigene Garten, die Kindererziehung, Kunst und Kultur, das Mitwirken am Gemeinwohl oder der demokratischen Willensbildung bis hin zum Innovieren neuer philosophischer oder gesellschaftlicher Theorien. Dies alles sind Tätigkeiten, die keiner Return-on-Investment Logik unterworfen sind, denn sie finden außerhalb des Marktes statt. Sie bringen Freude statt Geld. Und noch viel mehr: Sie können nicht automatisiert oder durch künstliche Intelligenz (KI) abgeleistet werden.
KI wird stets nur Aufgaben für uns erledigen, für die wir sie angelernt haben. Möglicherweise wird sie neue Lösungswege für bekannte Probleme finden. Sie wird aber nicht neue Probleme definieren. Sie wird keine gesellschaftlichen Innovationen erzeugen können oder philosophische Gedanken wie die Aufklärung hervorbringen. Sie wird nie über den Tellerrand ihrer eigenen Datenbasis hinausschauen können. Eine risikoreiche Lösung ist eine unwahrscheinliche Lösung aus Sicht der KI. Die Ungewissheit ist deshalb eine unlösbare Aufgabe für künstliche Intelligenz.
Eine KI wird ebenfalls nie etwas Revolutionäres, Systemneudenkendes vorschlagen können, denn sie beruht auf unseren Daten, unseren Erfahrungen, unserem Wissen. Sie funktioniert auf Korrelationen und Wahrscheinlichkeiten. Wenn keine Beobachtungen existieren, kann auch keine Korrelation erstellt werden können. Wir können folglich nicht von einer KI erwarten, dass sie uns in eine bessere Gesellschaftsform und Zukunft führt. Wir müssen sie stets anleiten und Probleme definieren, die sie für uns lösen soll. Aber sie kann repetitive Aufgaben übernehmen, sodass wir schließlich mehr Zeit haben, uns mit kreativen Dingen zu beschäftigen. Man stelle sich die gewaltigen menschlichen Ressourcen vor, die wir für das Entwickeln neuer Zukunftsmodelle aufwenden könnten, anstatt sie in Bullshit Jobs oder Steuererklärungen zu verschwenden. Das sollte die Zukunft sein: Zeit investieren, die die Menschheit als Ganzes voranbringen und Freude - nicht Entertainment - im Privaten erzeugen. Doch dafür brauchen wir erst einmal Zeitwohlstand.

Gehen wir es an?

Dipl Imp

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