We need to talk about Boomers
Man könnte fast Mitleid mit den Babyboomern haben, müssen sie doch für alle Dramen und Katastrophen dieser Welt als Verursacher herhalten: Wohnungsnot! Vermögensungleichverteilung! Klimakatastrophe! Krieg! Diskriminierung! Und natürlich das Neuland! All eyes on deez boomers.
An allem sind die geburtenstarken Jahrgänge 1955-1970 Schuld - einfach nur deshalb, weil sie ihr Leben gelebt haben, wie sie es eben taten. Aus der Perspektive eines gerade noch so Millennials bzw. Spätergeborenen empfinde ich immer häufiger so etwas wie Boomer Cringe, jenes mitleidige Gefühl, wenn jemand aus besagter Kohorte in altbekannte, angestaubte und mitunter problematische Verhaltensmuster verfällt. Aus der Zeit gefallene, schlicht unmoderne Sicht- und Handlungsweisen brechen hier und da unkontrolliert aus ihnen heraus. Ich möchte den Boomern in diesen Momenten zurufen: „Hartmut, ich weiß du kannst das besser. Fang doch noch mal von vorn an und dieses Mal ein klein bisschen weniger boomeresk“.
Ich durfte in die Management-Kaste blicken und es offenbarte mir eine völlig fremde, längst überwunden geglaubte Boomer-Society. Ich war mit sehr großem Abstand der Jüngste im Führungskreis, der Nächstältere feierte kürzlich seinen 53. Geburtstag und wurde von den Alten als „Küken“ bezeichnet. 100% alte, weiße, deutsche Männer - keine Metapher. Bei 14 Führungskräften. Stochastisch betrachtet ist diese Homogenität eine beträchtliche Leistung angesichts von über 40% Migrationsanteil in der Belegschaft und mageren aber immerhin noch knapp 30% Frauenanteil. Wie auch immer sie es geschafft haben, der diversity train legte in der Führungsetage jedenfalls keinen Stopp ein. Doch dann stellten sie mich ein, einen mittelalten, weißen, (ost-)deutschen Mann. Genug Veränderung für diese Jahrzehnt.
Weiterhin waren sämtliche Leitungstermine darauf angelegt, dem jeweils
anderen wortreich zu demonstrieren, wie viel man arbeitet (=nicht
leistet wohlgemerkt). Meetings um 8 Uhr morgens und 18Uhr abends waren die
Regel, nicht die Ausnahme. Niemand interessierte sich inhaltlich für die
zu bearbeitenden Projekte, das team wurde schlicht als Fließbandarbeiterinnen
betrachtet und sowieso wurde man nicht müde zu betonen, wie verkommen die
Arbeitsmoral der Jüngeren ist. Von the Great Resignation oder Quiet
Quitting hatte noch niemand etwas gehört, lieber wurde stoisch darauf
geachtet, dass die Pyramide der Hierarchie gewahrt wird, fast so, als gebe es
keinen demographischen Wandel. Die einzige Aufgabe als Führungskraft bestand
darin, Business KPIs zu beobachten und nach oben zu berichten. Es ist genau
diese harte Trennung zwischen produktiven Mitarbeiterinnen des Teamlevels und
den Boomerverwaltern der Berichtswesens (Management), wo sich jüngere Kolleginnen
zunehmend lauter fragen: Hey Manager, was ist eigentlich deine Contribution
zum Unternehmenserfolg?
Die Alters- und Wertschöpfungsklippe hat das
Potential, in der Breite eine De-Bossification anzuzetteln, die mittleres und oberes Management
weitgehend überflüssig machen kann, gewissermaßen eine margenoptimierende
Revolution von unten. Boomers Worklife
Eine derart ausgeprägte Boomer-Mentalität wie in dieser IT-Beratung mag branchenimmanent sein, und in vielen anderen Berufen längst überwunden und dennoch brachte mich diese Erfahrung zu folgender Erkenntnis (und letztlich auch zum Kündigen): Die Zusammenarbeit mit Boomern in der Endphase ihrer Karrieren ist für alle Beteiligten eine Zumutung. Der short-termism, ihre Führungskultur, ihre Übergriffigkeit in unsere Freizeit, die Buddydeals und Herrenwitze, ihre Leistungsdefinition über Arbeitszeiten. Das alles ist mittlerweile derart inkompatibel mit allen anderen nachkommenden Generationen, dass Konflikte offen ausbrechen. Für jeden Millennial wie mich ist die aktuelle Situation von Boomer Chefs und GenZ Teams die denkbar schlechteste Sandwichposition, wie diese Twitternutzerin so treffend beschrieb:
Boomer sind in ihrer Berufsendphase in Leitungsfunktionen angekommen und zu dieser schlichten Erkenntnis gehört auch, dass sie da nicht konkurrenzlos hingekommen sind –Soziologen bescheinigen ihnen gar besondere Leistungsorientierung und Statusbewusstsein. Und nun rückt die vermeintliche Null-Bock - bzw. viel treffenderer – die Null-Perspektiven-Generation „Z“ nach. Eine Generation, die gelernt hat, dass sich Anstrengungen nicht mehr lohnen. Klar, aus der Sicht eines 25-Jährigen würde ich auch nicht mehr leisten wollen, wozu auch? Auf ein Lebensziel hinzuarbeiten und anzusparen (Haus, Auto, Boot) erscheint in JEDER HINSICHT unerreichbar. An den Wohlstand vorangegangener Generationen heranzukommen, ist aus ihrer Kraft nicht mehr möglich. Manche befürchten gar, dass aus genau diesem Grund eine nihilistische Generation heranwächst.
Jedem muss klar sein, dass die Boomer-Vermögenswerte (Reihenendhäuser, Grundstücke, Eigentumswohnungen, Aktienfonds und selbst Rentenpunkte) durch die anhaltend hohe Nachfrage jüngerer Generationen und Einwanderer schlichtweg durch die Decke gegangen sind, also eben NICHT SeLBsT eRArBeitTET worden sind. Man muss das in dieser Deutlichkeit sagen, denn unter Boomern herrscht weithin die Ansicht, in ihrem Leben stets hart gearbeitet, solide Entscheidungen getroffen und DESHALB wohlverdient die Früchte ihrer Arbeit genießen können. Aber war es nicht vielmehr so, dass sie seit Eintritt in die Erwerbstätigkeit in den 80er- und 90er Jahren Vermögenswerte historisch gering besteuert wurden und sie weder Immobilien- noch Währungskrisen erlebt haben? Dass das ein einmaliger Vorgang in der neueren Geschichte war? Ihr Selfmade Mythos ist vielmehr ein glücklicher Umstand des neo-liberalen Zeitgeistes ihres Erwerbslebens statt übermäßiger Aufopferung im Job und besonders weiser Lebensentscheidungen.
Wer die Heuristik und den Werteatlas jüngerer Generationen zu verstehen versucht, sollte, ja muss sie im Kontext der von drei looming crisis betrachten:
- Housing Crisis
- Cost-of-Living Crisis
- Climate Crisis
An jeder dieser drei Megakrisen hat die Boomer Generation maßgeblichen mitgewirkt. Bei Veröffentlichung von „Grenzen des Wachstums“ 1972 waren sie Teenager, 25 Jahre später zur Unterzeichnung des Kyoto Protokolls waren sie bereits Ende Dreißig und 18 Jahre später zum Pariser Klimaabkommen schon Mitte 50. An fehlender Erkenntnis kann es also nicht gelegen haben.
Die drei existentiellen Megakrisen jünger Generationen liefern möglicherweise die Antworten, warum es insbesondere in der Gen Z so viele Crypto-Bros gibt (aka die Hoffnung auf plötzlichen Reichtum ohne Arbeit), warum Achtsamkeit und Körperkult unter jungen Menschen populär ist (aka das 10€ Avocado-on-Toast als Seelenpflege und letzter „bezahlbarer“ Luxus), und warum Unstetigkeit im Berufsleben und Arbeitgeberausbeutung zunehmen (aka wachsende Dissonanz zwischen eigenen Wertevorstellungen und den tatsächlichen Arbeitgeberrealitäten).
Zusammengefasst bringt es der Soziologe Gerald Davis sehr treffend auf den Punkt:Our grandparents had careers. Our parents had jobs. We complete tasks.
Übersetzt: Der Gestaltungsspielraum jüngerer Generationen hat sich derart verengt, das langfristige, private wie auch berufliche Lebenspläne nicht mehr realisierbar sind. Willkommen in der Freiheit ohne Freiheit.
In “A Generation Of Sociopaths - How the Baby Boomers Betrayed America” (2017) führt der Autor Bruce Cannon Gibney recht drastisch aus, dass es dieser Generation an Empathie fehlt (hohe Scheidungsraten, Gewalt, Kriminalität) und sie an einer “inability to plan for the future” leidet (starke Ãœberschuldung, Umweltzerstörungen, Vermüllung, generell eine „nach uns die Sintflut“ Mentalität) und belegt dies mit allerhand Statistiken. Nun muss dazu gesagt werden, dass in den USA der Babyboom 10 Jahre früher einsetzte (ab 1946) als in Deutschland (ab 1955) und die Kulturkämpfe zwischen den Generationen dort schon länger toben als hierzulande. Aber es lässt erahnen, was uns an Konflikten noch bevorsteht.
Eine Figur wie Ulf Poschert (Jahrgang 1967), der sich die Freiheit nimmt, Vollgas Porsche zu fahren und bei den negativen Folgen seiner Freiheitsauslegung keinerlei Eigenverantwortung sieht, würde vermutlich boomeresk erwidern: „Klar steigen die Meeresspiegel durch mein Verhalten an, aber dann muss man halt die Dämme höher bauen.“ (sinngemäß rezitiert von Fahri Yardim)
Das Weltbild von Poschert et al nährt die Vermutungen, dass Boomer und so manch einer der GenX kollektiv einer Bleivergiftung in den 1960er und 1970er Jahren erlitten haben müssen und deshalb gewisse soziale Defizite vorweisen.Genug der langen Einleitung, kommen wir zur Kernfrage: Wie leiten wir einen Kulturwandel in Unternehmen und Gesellschaft ein? Wie überwinden wir den Stillstand und einen die Generationen gleichermaßen? Wie vermeiden wir die Zumutungen im Umgang mit toxisch agierenden Boomer im Joballtag?
Hier kommt mein halb ernstgemeinter Vorschlag:Wir brauchen ein institutionalisiertes Boomer Abklingbecken!
Fakt ist, dass wir mit Boomern in der Endphase ihrer Berufstätigkeit noch etwa 5-8 Jahre zu tun haben werden, die entscheidenden Jahre, in denen die Alten noch auf wichtigen Positionen in Wirtschaft, Politik und Verwaltung sitzen und wichtige Veränderungen behindern, hinauszögern oder sabotieren werden. Aber: Zeit ist ein Faktor. Wir können die Boomer nicht aussitzen und warten, bis der Letzte in Rente gegangen ist (Boomer wollen sogar länger arbeiten!). Wir als Gesellschaft haben realistischerweise noch bis ca. 2030 halbwegs solide Staatsfinanzen, kalkulierbares Klima und das nötige industrielle Fundament, um Transformationen aller Bereiche unserer Gesellschaft in die Wege zu leiten. Energiewende, Wärmewende, Mobilitätswende, Digitalwende, demographische Wende, Vermögenswende und etliche weitere „Wenden“ müssen in den nächsten 5-8 Jahren eingeleitet werden, damit sie in der Mitte der 2030er Jahren beginnen, Früchte zu tragen.
Problem: Die Boomer sind zu viele, um über sie hinweg zu entscheiden und Jüngere sind zu machtlos, um Veränderung gegen die Widerstände durchzusetzen. Um dennoch Fortschritt zu erzielen, brauchen wir ein Set-up, in dem Boomer ihre Boomer-Dinge machen können und alle anderen Generationen ungestört und ohne Reibungsverluste an der Zukunft unserer Gesellschaft arbeiten können.
Jetzt ganz konkret: Nehmen wir die Digitalisierung in Betrieben und Verwaltungen. Solange die IT-Abteilungen von Boomern geführt werden, werden sich NIE moderne IT-Strukturen etablieren können. (think inabilitiy to plan for the future) Gründeten wir aber eine Art Auffanggesellschaft - das Abklingbecken - und steckten alle IT-Boomer dort hinein, könnten wir mit dem Rest der Belegschaft in weniger Zeit mehr schaffen. Boomer Strukturen sind ENORM ineffizient. Hierarchie, Meetings, Machtspielchen und Buddydeals kosten UNMENGEN Ressourcen für wenig Output. Transferierten wir aber die Boomer samt ihrer Kultur und Arbeitsweisen, ihrer komplexen Hierarchien und gegenseitigen Respektsbekundungen in eine eigene Gesellschaft, wo sie allen anderen nicht mehr im Weg stehen oder gar unsere Arbeit sabotieren können, hätten wir sowohl die IT-Modernisierung beschleunigt, als auch die Boomer busy, ja „abgelenkt“ gehalten.
Wir geben der Auffanggesellschaft ein eigenes Gebäude, mit Anwesenheitspflicht, Poststelle und unfreundlichem Pförtner und natürlich ein großes Ziel, eine Phantom-Mammutaufgabe. Zum Beispiel die Neuentwicklung eines europäischen Kernbankensystems, eine Pilotanlage für Photosynthese im industriellen Maßstab oder die Neuberechnung eines zukunftsfähigen Rentensystems. Allesamt große Aufgaben, die die Gesellschaft weiterbrächte. Sie bekommen dafür lediglich viel Personal aber kein Investitionsbudget.
Ich gehe jede Wette ein, dass sich die neue Gesellschaft ein unfassbar komplexes Organigramm geben würde, mit etlichen Stabsstellen und Hierarchiestufen und tausende Boomer in 60h+ Arbeitswochen damit beschäftigt sein werden, den einzig richtigen Weg zu finden. Für mindestens 5 Jahre wären alle Beteiligten super busy.
Währenddessen machen wir Jüngeren die eigentliche Modernisierungsarbeit in Wirtschaft, Verwaltung und Gesellschaft. Wir arbeiten in flachen Hierarchien, in familiengerechten Strukturen, lösungsorientiert und effizient, an flexiblen Arbeitsorten, mit moderner Ausstattung und Methoden, kurzum GETTING THINGS FUCKING DONE, ganz ohne Drama, Schulterklappen und Gebrüll.
Diese Abklingbecken müssen glaubhaft auftreten und statusmäßig aufgeladen werden, denn Soziologen bescheinigen den Boomern ein ausgesprochen ausgeprägtes Statusstreben. Also bräuchte es Wolfgang Schäuble als Schirmherr, altgediente Manager wie Mehdorn und Winterkorn in Führungspositionen, die prestigeträchtigen Parkplätze vor Gebäudeeingängen werden durch eigens geschaffene Stabsstellen vergeben, Vorzimmerdamen, Namensschilder an Türen, Visitenkarten, Führungszirkel, Kommissionen, Arbeitskreise, Experten, Beauftragte, VPs, SVPs… ein riesengroßes Spektakel der Eitelkeiten.
Damit das Konzept auch in ganz Deutschland funktioniert, müssten selbstverständlich auch Regional- und Dachorganisationen geschaffen werden, denen die vielen einzelnen Abklingbecken unterstellt sind. Selbstreden jede einzelne mit Bei- und Verwaltungsräten, eine einfach niemals endende Struktur. Insgesamt sind dort so viele Boomer beschäftigt, dass wir große Teile der Boomer Bremser und auch Menschen mit „Boomer Mindset“ dort unterbringen. Hinterhältigerweise kämpft die Organisation vom Tag 1 ihrer Existenz mit dem Problem, dass ständig jemand in Rente geht oder langzeitkrank wird. Insofern ist sie dauerhaft damit beschäftigt, zu konsolidieren, Abteilungen zusammenzulegen, Ãœbergaben und Einarbeitungen zu organisieren, neu zu strukturieren…ein Change Management Dauernieselregen. Es wird Boomer derart auslaugen, dass sie sich auch außerhalb der beruflichen Abklingbecken kaum für politische Entscheidungen interessieren und einsetzen werden. Triple Win!
Ok, zurück zum Ernst der Lage: Die nächsten 5-8 Jahre sind entscheidend. Wir können uns die Boomer Mentalität in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nicht mehr leisten. Wir brauchen eine Anschlussverwendung für die mitunter toxische Kohorte. Abklingbecken könnten die Lage entspannen, sie sind kostenneutral aber erhöhen unsere Gesamtproduktivität. Also warum eigentlich nicht?